Auschwitz - der ferne und doch nahe Ort
ANGST
Mit Auschwitz verbindet sich die Vorstellung an einen Ort, an dem ungezählte Menschen ermordet wurden - auf eine Weise und in einem Umfang, der menschliche Vorstellungskraft übersteigt. Raul Hilberg, der eines der bedeutendsten Bücher über den Mord an den europäischen Juden veröffentlicht hat, nennt diese Orte mit einer Prägnanz, wie sie die deutsche Sprache nicht hat: killing center. Die Vorstellung, an einen solchen Ort zu fahren, löst Ängste aus, stellt sich Annäherung entgegen, macht sie schwer.
ANNÄHERUNG
Auschwitz war aber auch ein Ort zwischen-menschlicher Solidarität, ein Ort mit Spuren des Widerstands gegen Rassismus und Nazismus. Das ist wichtig, während eines Besuches wahrzunehmen. Eine Annäherung an die Spuren von Tod und Vernichtung, der Gang zu den Ruinen der Gaskammern von Birkenau kann so zu einer aufrüttelnden Begegnung werden. Die Erinnerung an die Menschen, die in Auschwitz und Birkenau litten und ermordet wurden, wird ins eigene Gedächtnis aufgenommen und so zum Ausgangspunkt für in die Zukunft wirkendes Gedenken. Die Täter von Auschwitz, die Organisatoren des Verbrechens, waren konkrete Menschen, Menschen aus unserem Land. Das kann und soll anregen, über Konsequenzen für Gegenwart und Zukunft unserer eigenen Gesellschaft nachzudenken.
SPUREN
In der Geschichte von Auschwitz ist wie in einem Brennglas wahrnehmbar, was die Ziele und Intentionen der Nationalsozialisten waren und was sie ab 1939 mit mörderischer Konsequenz in die Tat umsetzten. Wer durch das Gelände von Auschwitz und Birkenau geht, stößt auf Spuren menschlichen Schicksals, stößt Schritt um Schritt auf Zeugnisse deutscher Geschichte.
Wer in Birkenau steht und bis zum Horizont die stehen-gebliebenen Schornsteine der Baracken sieht, der erfährt die Grenzenlosigkeit der Pläne der Nazis. Wer vor den Trümmern der gesprengten Gaskammern in Birkenau steht, fragt sich, wie viele Menschen die Treppe zu den Auskleidekellern hinuntergingen, ihre Kleidung ablegen mussten und dann in die Gaskammer getrieben wurden. Wer in der historischen Ausstellung die Fotografien der Ende Mai 1944 aus Ungarn nach Birkenau gebrachten Juden sieht, der schaut in die Gesichter von Menschen, die aus ihrem Alltag gerissen wurden und einige Stunden nach dieser Aufnahme nicht mehr lebten.
Es ist also nicht eine Geschichte von Zahlen, von trockenen Daten - in dieser Geschichte geht es um Menschen. Das macht den Zugang so schwierig, aber gerade das eröffnet auch eine Chance zur Annäherung. Denn wer durch Auschwitz und Birkenau geht, stößt auf Namen, auf Gesichter, auf die Spuren von konkreten Männern, Frauen und Kindern mit einer konkreten Adresse, die einmal gelebt haben und deren Leben in Auschwitz zu Ende ging – oder die diese Zeit überlebten und heute wichtige Zeitzeugen sind.
ERINNERUNG
Sicher erfordert es Zeit, dies wahrzunehmen. Und es ist kein leichter Eindruck. Diese Gesichter an diesem Ort zu sehen, wo die auf den Fotografien abgebildeten Menschen ihre letzten Stunden verbrachten, das entfaltet eine eigene Wirkung, reibt auf, macht wütend, regt auf. Aber darin liegt die Aufforderung, an diesen Ort zu kommen. Um der Menschen willen, an die er erinnert. Um des Anstoßes willen, den wir heute von diesem Ort mitnehmen können.
AUSEINANDERSETZUNG
Nachdenken über diesen Ort und das dort Geschehene braucht seine Zeit. Ein wichtiger Bestandteil dieser Reise ist deshalb, seine Gedanken zu sammeln, sie mit
anderen zu teilen und darüber zu sprechen. Ein gutes Mittel hierfür ist die Verarbeitung dieser Gedanken in den verschiedenen Workshop-Gruppen. Hier bekommen die Gedanken neuen Ausdruck und
werden an andere Menschen weiter gegeben.
Was hat Auschwitz mit mir persönlich zu tun? Diese Frage geht wohl allen durch den Kopf, die Auschwitz und Birkenau gesehen haben. Antworten auf diese Frage zu suchen, trägt dazu bei, dass die Erinnerung an die Menschen von Auschwitz nicht untergeht. Als Konsequenz aus dem unmittebaren Angerührtsein und der Verarbeitung des Erlebten, erwächst die Fähigkeit, seinen neu gewonnenen eigenen Standpunkt anderen gegenüber zu artikulieren. Das wirkt präventiv, damit sich Geschichte nicht wiederholt.
Jugendliche die in Auschwitz waren und sich mit der Problematik eine Woche auseinandergesetzt haben, bestätigten, dass sie an diesem Projekt innerlich gewachsen sind. Geschichte wurde für sie erlebbar. Sie waren froh, dass sie sich für die Reise entschieden haben. Sie fanden die Erlebnisse vor Ort nicht grausam, sondern waren bewegt von der Dimension des Lagers, von der Stille, die von dem Ort ausgeht, aber auch von den Einzelschicksalen der Häftlinge. Sie waren entsetzt von den Strukturen und den Menschen, die den Holocaust erdachten und ausführten, stellten sich aber auch die Frage: „Was hätte ich getan?“
GEGENWART & ZUKUNFT
Den Wunsch nach einem wertvollen Leben hatten die Menschen damals genauso wie wir heute. Jeder Mensch hat das Recht auf ein wertvolles Leben. Jeder von uns kann dazu beitragen, anderen Menschen ein wertvolles Leben zu ermöglilchen. Wir können uns füreinander einsetzen und uns stark machen, wenn andere erniedrigt und gedemütigt werden, wenn ihnen Gewalt angetan wird, sie hilflos sind. Wir können uns stark machen für andere, wenn sie verängstigt sind und eingeschüchtert werden. Wir können dann, wenn Ungerechtigkeit geschieht, nicht wegschauen und schweigen, sondern uns einmischen. Das sind nur einige Beispiele. Wichtig ist, dass wir uns bewusst machen, was in Auschwitz passiert ist, können wir zwar nicht rückgängig machen, aber wir können dazu beitragen, dass so etwas nicht wieder passiert.
Texte: Jochen August „Annäherung an Auschwitz. Ein Versuch.“ (Hrsg. ASF Berlin)
sowie Thomas Groschwitz, Susann Berger
Fotos: Thomas Groschwitz © Studienfahrt Oswiecim/ Auschwitz in Polen